Zwischen schneebedeckten Gipfeln und alten Pfarrhäusern tauchen plötzlich Dokumente auf, die eine vertraute Geschichte anders klingen lassen. Was jahrhundertelang als düstere Chronik kursierte, erhält dank neuer Blätter, Ränder und Siegel eine irritierende Klarheit.
Historischer Hintergrund
Im 15. bis 17. Jahrhundert wurden im Wallis Prozesse gegen vermeintliche Zauberkräfte geführt. Die Verfahren verbanden religiösen Eifer mit politischer Nervosität.
Klimaängste, Erntekrisen und lokale Machtspiele schufen ein leicht entzündliches Gemisch. Aus Gerüchten wurden Protokolle, aus Protokollen Urteile, und aus Urteilen endgültige Schnitte ins Leben.
Die neuen Funde
In verstaubten Kisten lagen Ratsprotokolle, Rechnungsbücher und Randglossen. Manche Seiten sind mit Wachs geflickt, andere mit Tintenproben überarbeitet.
Besonders aufschlussreich sind Notizen neben offiziellen Formeln, die Frust, Zweifel oder Eile verraten. Eine blasse Hand schrieb: “Die Aussage ist unsicher.” Daneben ein Kreuzchen der Schreiberin.
- Enthüllt werden alltägliche Ökonomien (wer wem Mehl lieh), soziale Spannungen (Nachbarschaft, Erbschaften), Verhörtechniken (Suggestivfragen) und leise Widerstände (verweigerte Unterschriften).
“Wir müssen die Stimmen der Angeklagten lesen, nicht nur die Urteile”, sagt ein anonymer Forscher, der an der Edition der Funde arbeitet.
Wer stand vor Gericht?
Die Akten zeichnen kein schlichtes Feindbild. Unter den Beschuldigten finden sich Bäuerinnen, Heiler, Söldnerwitwen und umherziehende Handwerker.
Alter, Besitz und Dialekt spielten oft mit; ein fremder Akzent konnte zur Belastung werden. Gleichzeitig tauchen Männer als Ankläger, Zeugen und manchmal als Mitangeklagte auf.
Eine Randnotiz notiert trocken: “Sie brachte Kräuter gegen Fieber.” Dagegen steht die Anklage: “Sie rief Wind und Schaden.” Die Spannung zwischen Hilfe und Verdacht wird greifbar.
Wie die neuen Stücke gelesen werden
Die Forscher kombinieren Paläografie mit digitaler Bildgebung. Multispektrale Scans holen verwischte Zeilen zurück, Datenbanken verknüpfen Namen, Orte und Zahlungen.
Wichtig ist der doppelte Blick: erst das Dokument als materielles Objekt, dann als soziales Ereignis. Ein Zins im Rechnungsbuch kann ein Schlüssel zum Motiv sein.
“Was uns fehlt, sind stille Zwischenräume,” heißt es in einem Projektbericht, “und genau dort leuchten die Funde.”
Alte Narrative gegen neue Lesarten
Die Debatte verschiebt sich vom Schwarz-Weiß zum Spektrum. Das folgende Schema zeigt, wie Deutungen kippen können.
| Aspekt | Überlieferte Narrative | Neue Archivfunde |
|---|---|---|
| Täterbild | Dämonische “Hexe” als fremdes Wesen | Nachbarliche Konfliktfigur, in lokale Rollen eingebettet |
| Verfahren | Einheitliche, erbarmungslose Maschinerie | Uneinheitliche Praxis, Pausen, Zweifel, lokale Manöver |
| Motivation | Religiöser Fanatismus | Gemisch aus Ökonomie, Besitz, Ehre, Angst |
| Geografie | Homogener, flächiger Brennpunkt | Dichte Inseln, Täler mit ganz anderen Rhythmen |
| Sprache | Formelhaftes Gerichtslatein | Hybrid aus Deutsch, Latein und Patois mit Seitenblicken |
Diese Gegenüberstellung zwingt zur Sorgfalt. Sie ersetzt keine Empathie, aber sie korrigiert bequeme Gewissheiten.
Stimmen zwischen den Zeilen
Manche Protokolle spiegeln die Ermüdung der Schreiber: “Genug für heute; der Wind ist kalt.” Ein anderer Randvermerk vermerkt: “Die Mutter weint.”
Solche Splitter durchbrechen das starre Gerüst. Sie zeigen Menschen, die mit Zeitdruck, Witterung und Verantwortung ringen.
Eine fiktive, doch plausible Stimme aus der Gegenwart: “Wer das Archiv betritt, betritt ein Zimmer voller Atem.” Der Satz ist keine Statistik, aber eine methodische Warnung.
Was das für heute bedeutet
Die Funde lehren, wie leicht Gerücht zu Gewissheit gerinnt. Sie zeigen, wie Macht über Papier fließt, wie Worte zu Waffen werden und wie Schweigen schützt.
Für Schulen, Museen und Gemeinden eröffnen sich neue Erzählwege. Statt bloßer Opferzahlen treten Biografien, berufliche Routinen und Nachbarschaften in den Vordergrund.
Wer heute über Hate Speech, Denunziation oder Verschwörungsdenken spricht, findet hier keine simplen Analogien, aber harte Fragen: Wer profitiert? Wer protokolliert? Wer zweifelt?
Ein letzter Blick ins Licht
Am Ende bleibt die Spannung zwischen Schmerz und Erkenntnis. Die Funde nehmen niemandem das Leiden, aber sie geben Konturen, Handschriften, Wendungen.
Das Wallis zeigt sich nicht als Bühne eines einzigen Mythos, sondern als Raum vieler Stimmen. Aus Pergament, Tinte und Staub tritt eine komplexe Vergangenheit ins Freie.
