Ein Team Schweizer Klimawissenschaftler hat in archivarischen Messreihen eine Anomalie ausgemacht, die gängige Annahmen herausfordert. Über Jahrzehnte hinweg blieben die Signale unsichtbar, verborgen hinter Rauschen und methodischen Umbrüchen. Erst eine neuartige Analyse zeigte eine Diskrepanz zwischen Temperatur- und Feuchtereihen seit den 1980er-Jahren. Was zunächst wie ein Artefakt wirkte, entpuppt sich als robustes Muster.
Was die Anomalie zeigt
Im Zentrum steht eine Entkopplung: Temperaturen steigen stetig, während spezifische Feuchte und bodennahe relative Feuchtigkeit in Teilen der Schweiz kurzzeitig einbrechen. Das Muster ist räumlich kohärent, zeitlich aber phasig und auf wenige Jahre konzentriert.
Die Forscher sprechen von einem „Zangeneffekt“, bei dem natürliche Variabilität und Messtechnikwechsel zusammen eine scheinbar neue Signatur erzeugen. „Wir sahen einen plötzlichen Knick, der in mehreren Archiven gleichzeitig auftritt“, sagt Luca Meier, Leitautor an der ETH Zürich.
Wie die Daten geprüft wurden
Das Team kombinierte Stationsreihen, Proxydaten aus Baumringen und moderne Reanalysen. Durch ein strenges Homogenisierungsverfahren wurden Sprünge aus Instrumentenwechseln herausgerechnet, ohne die physikalische Variabilität zu glätten.
Besonders wichtig war eine Kreuzvalidierung: Jedes Signal musste in mindestens zwei unabhängigen Quellen auftauchen. „Wir wollten jeden Bias entlarven, bevor wir eine Hypothese formulieren“, betont Meier.
Vergleich der Signale
Die folgende Übersicht zeigt, wie unterschiedliche Datensätze das Muster widerspiegeln und wo Abweichungen liegen.
| Datensatz | Erwartetes Signal | Gefundenes Signal | Abweichung (1980–2010) |
|---|---|---|---|
| Alpine Wetterstationen | Gleichmäßiger Temperaturanstieg, leichte Feuchte-Stagnation | Starker Anstieg ab Mitte 80er, kurzer Feuchteknick 1987–1993 | Temp +0,9 °C; RH −4 % |
| Reanalysen (ERA) | Glatte Trends, keine abrupten Brüche | Abgeschwächter Knick in Feuchte, Temperaturtrend konsistent | Temp +0,8 °C; RH −2 % |
| Baumring-Proxys | Langsame Feuchteveränderung | Breitere Delle um 1990, regional versetzt | Wasserstress-Index ↑ |
| Gletschersensoren | Korrelierte Energie- und Feuchtesignale | Höhere Strahlung, schnellere Ablation trotz moderater RH | Nettoenergie +6–8 W/m² |
„Die Überlappung ist das eigentlich Unerwartete“, sagt Meier. „Verschiedene Methoden sehen denselben Takt, wenn auch mit anderer Amplitude.“
Mögliche Ursachen
Mehrere Mechanismen könnten das Bild erklären, teils überlagernd, teils regional begrenzt.
- Änderungen bei Instrumenten und Belüftung von Hygrometern führten zu kleinen, aber synchrone Verschiebungen.
- Häufigere Blockierungslagen brachten trockene Luftmassen häufiger in tiefe Lagen.
- Rückgang von Aerosolen erhöhte die kurzwellige Strahlung und damit die Verdunstung.
- Landnutzungsänderungen beeinflussten die Bodenfeuchte und lokale Turbulenz.
„Wir haben keinen einzigen Schuldigen“, sagt die Co-Autorin Mara Schmid. „Es ist eine Komposition, die nur im Zusammenspiel plausibel wird.“
Warum das wichtig ist
Die Anomalie trifft zentrale Schnittstellen zwischen Klimaüberwachung und Modellierung. Wenn relative Feuchte kurzfristig stärker fällt als erwartet, ändern sich Wolkenbedeckung, Aerosol-Wasser-Wechselwirkungen und Strahlungsbilanz. Das beeinflusst Gletscherablation, Wasserverfügbarkeit und sommerliche Hitzewellen.
Für die Kalibrierung von Klimamodellen ist das entscheidend. Eine zu glatte Feuchte-Historie kann Extremereignisse unterschätzen, während überkorrigierte Brüche zu falschen Trends führen. „Unsere Botschaft ist nüchtern“, sagt Schmid: „Messerien sind lebendig. Man muss sie wie Zeitzeugen befragen, nicht wie unveränderliche Wahrheiten.“
Was als Nächstes passiert
Das Team plant eine Rekonstruktion auf Tagesbasis mit probabilistischen Bruchpunkttests, gekoppelt an Zirkulationsindizes. Ziel ist es, physikalische Treiber von meta-datengetriebenen Sprüngen klarer zu trennen und Unsicherheiten transparent zu quantifizieren.
Parallel sollen historische Hygrometer im Labor unter kontrollierten Feuchte-Bedingungen neu charakterisiert werden. Dadurch ließen sich alte Bias-Korrekturen präziser ansetzen und Regionalkarten neu bewerten.
Ein drittes Arbeitspaket verbindet Bodenfeuchte aus Satelliten mit Flussabflüssen, um hydrologische Echoeffekte der 80er/90er-Phase zu prüfen. „Wenn die Hydrologie mitschwingt, wird aus einem Messphänomen ein Stück Klima-Geschichte“, so Meier.
Am Ende steht eine einfache Lehre: Je älter die Daten, desto wertvoller – und desto mehr Sorgfalt brauchen sie. Die jetzt identifizierte Anomalie ist kein Widerspruch zur Erwärmung, sondern ein Hinweis auf komplexe Wechselwirkungen, die erst im langen Atem sichtbar werden.
