Der Morgen roch nach Kälte, und die Felsen oberhalb der Baumgrenze schimmerten silbern. Ein trockenes Klacken fuhr wie eine Morsezeichenfolge durch die Mulde, gefolgt von einem vibrierenden Summen, das die dünne Luft spürbar machte. Was zunächst wie reiner Zufall klang, entpuppte sich als getaktete Handlung: Alpendohlen ließen Kiesel fallen, Gämse verharrten und scharrten, und beides griff wie ein Mechanismus ineinander.
„Ich habe keine Referenz dafür gefunden“, sagt Dr. Lukas Ferner, der das Verhalten über drei Saisons dokumentierte. „Es ist eine Art kooperative Ressourcenöffnung – präzise, wiederholbar, und offenbar für beide Seiten lohnend.“
Die erste Begegnung am Grat
Die Szene spielte sich an einem frostigen Nordhang ab, dort, wo Salz aus porösen Dolomitadern austritt und über Nacht zu zarter Kruste gefriert. Kurz nach Sonnenaufgang kreisten Alpendohlen in Schlingen, pickten kleine Steine auf, stiegen wenige Meter an und ließen sie mit leisem Pling auf die Kruste prallen.
Die Gämse warteten, Nüstern weit geöffnet, Vorderläufe fest in den Schnee gedrückt. Dann stampften sie rhythmisch, als folgten sie einem Takt, den nur sie kannten. Die Kruste brach, Salz schimmerte frei, und ein leises Trillern der Dohlen mischte sich unter das Scharren.
Was beim „Stein‑Trommeln“ passiert
Ferner bezeichnet das Muster als „Stein‑Trommeln“ – eine Folge aus gedämpftem Steinwurf, gezieltem Stampfen und sofortiger Nutzung der freigelegten Mineralien. Die Vögel picken Splitter, die Gämse lecken das freigelegte Salz, und es folgt eine zweite Phase: Die Gämse dulden kurze Sitzphasen der Dohlen auf Rücken und Schultern, während die Vögel an Fellkanten zupfen.
„Das wirkt wie Mikro‑Putzsymbiose“, so Ferner. „Kein klassisches Putzen wie bei Rindern mit Madenhackern, aber die Vögel sammeln Hautschuppen und winzige Parasiten, während die Gämse auffallend ruhig bleiben.“
Ein älterer Wildhüter aus dem Tal fasst es so: „Die Dohle arbeitet, die Gams wartet, und am Ende hat jeder sein Salz.“
Daten, Muster und Alternativen
In 41 dokumentierten Ereignissen trat das Verhalten vor allem an klaren, windstillen Tagen zwischen 07:10 und 08:25 Uhr auf. Die Sequenzen dauerten im Mittel 6,4 Minuten, bei Frostlagen bis zu 9,1 Minuten. Wo der Untergrund als „weich“ klassifiziert wurde, blieb das „Trommeln“ aus.
Ferner testete Kontrollen: künstlich verstreuter Kies ohne Salz führte zu Abbruch, während angefeuchtete, leicht gefrorene Salzpads das Verhalten auch an Nebenstellen triggerte. Einfache Nahrungsneugier schließt er daher aus.
Einordnung im alpinen Vergleich
| Phänomen | Beteiligte Arten | Signal/Tool | Ressource | Gegenseitiger Nutzen |
|---|---|---|---|---|
| Knochenwerfen der Bartgeier | Bartgeier | Falltechnik | Mark/Weichteile | Einseitig für Geier |
| Salzlecken an Lawinenkegeln | Huftiere | Kein Signal | Salz | Einseitig für Huftiere |
| „Ameisenbaden“ bei Singvögeln | Singvögel, Ameisen | Chemische Abwehr | Formiat | Einseitig für Vögel |
| Krähen Werkzeuggebrauch | Rabenvögel | Stöcke/Haken | Insekten/Larven | Einseitig für Krähen |
| Stein‑Trommeln am Dolomitgrat | Alpendohle, Gämse | Steinwurf/Stampfen | Salz + Fellpflege | Beidseitig, zeitlich getaktet |
Die Kombination aus Tool‑Nutzung durch Vögel und rhythmischer Beteiligung eines großen Säugers ist im Alpenraum so noch nicht beschrieben.
Warum die Kooperation Sinn ergibt
Salz ist im Winter knapp, Parasitenlast kann trotz Kälte variabel sein, und kurze, tolerierte Kontaktmomente sparen Energie. Die Dohle erhält mineralische Splitter und Biomaterial, die Gams Mineralien und sofortige, oberflächliche Pflege.
„Der springende Punkt ist die Sequenzierung“, sagt Ferner. „Ohne den Steinimpuls kein Bruch, ohne Stampfen keine Freilegung, ohne duldsames Stehen keine Putzchance.“
Hypothesen zur Evolution
- Gemeinsamer Nutzen unter episodischem Zeitdruck (Tauwetter‑Fenster).
- Soziales Lernen in Dohlen‑Trupps, übertragen auf willige Gämsen.
- Konditionierte Toleranz: positive Verknüpfung von Fellkontakt und sofortigem Salzgewinn.
Wie sich Fehler ausschließen lassen
Ferner setzte auf verblindete Codierungen, unabhängige Beobachter und akustische Spektren. Die Klangprofile der Steinaufschläge zeigen Konstanz, ebenso die Latenz bis zum ersten Stampfer. Thermodrohnen dokumentierten die kurzzeitige Erwärmung im Fellbereich nach Dohlensitz, was auf minimale Durchblutungsspitzen durch taktile Reize hindeutet.
„Ich habe Szenen, in denen die Dohle zwei‑mal wirft, dann schweigt – erst der dritte Treffer bricht die Kruste“, sagt er. „Das ist kein Zufall.“
Was das für den Schutz bedeutet
Wichtige Salzstellen liegen oft nahe Pisten, wo Winterbetrieb Geräusche und Störungen verstärkt. Eine Pufferzone in den Morgenstunden könnte sowohl Vögeln als auch Huftieren helfen. Zudem lassen sich künstliche, dünne Salzplatten an stillen Nebenkanten ausbringen, um die Hotspots zu entlasten.
Ein lokaler Guide meint: „Wenn wir ihnen morgens eine Stunde geben, geben sie uns am Nachmittag eine ruhige Bergseite zurück.“ Das klingt romantisch, ist aber pragmatisch: Weniger Fluchtdistanzen, stabilere Routen, weniger Konflikte.
Was als Nächstes ansteht
Geplant sind mikrochemische Analysen der Splitter, Langzeit‑RFID‑Tracking bei Dohlen und thermische Marker an Salzstellen. Ferner hofft auf Replikationen in anderen Tälern, um soziale Traditionen von rein ökologischen Zwängen zu trennen.
Bis dahin bleibt das Klacken am Morgen das leise Metronom einer Beziehung, die wir erst zu verstehen beginnen – ein Stück Alpenlogik, das aus Stein, Salz und erstaunlicher Geduld gebaut ist.
